„Goldene Energie“ als neue Zentralperspektive der Baukultur

von Manfred Wenzel

 

„Baukulturell bietet sich mit der kontinuierlichen Anpassung an aktuelle Bedarfe die Chance, Fehler der Vergangenheit zu beheben und beständig neue Qualitäten zu formulieren.“ So hieß es im Baukulturbericht 2014. Inzwischen sind die technischen und planerischen Fehler der Vergangenheit zu einer gesellschaftlichen Schwerlast geworden, sodass niemand mehr weiß, wie sie effizient zu bewältigen ist.

Der neue Baukulturbericht 2022/23 ist der Politischste, den es je gegeben hat.

Sein innerer Bezugspunkt ist der ganze Turm an ungelösten Problemen, der sich aufgestaut hat: Klimaschädliche Altgebäude, steigende Wohnungsknappheit, teure Bauvorschriften, multipliziert mit der galoppierenden Baupreisinflation, Flächenknappheit, städtische Verkehrswende, überlastete Baubehörden, Sozialwandel der Stadt und anderes mehr. Das ist heftig. Und es ist toll, dass der neue Baukulturbericht die Probleme so umfassend in den Blick nimmt.

Aber hat er auch eine Lösung?

Sagen wir mal so: Ja, aber sie ist nicht so einfach, wie es klingt. Die Handlungsempfehlung will „die Fehler der Vergangenheit“ nicht mehr vor allem beheben, sondern buchstäblich darauf aufbauen, etwa durch mehr Aufstocken. Die wesentlichen Handlungsempfehlungen lauten daher: „Umbau zum neuen Leitbild machen! … Paradigmenwechsel hin zur neuen Umbaukultur.“

Der Bestandserhalt wird damit zur zentralen Perspektive der Stadtentwicklung. Neben „weichen“ Argumenten ist der Energievorteil entscheidend: Die bestehenden Gebäude enthalten hohe Energieaufwände. Durch Umbau, Sanieren und Aufstocken wird daraus „Goldene Energie“. Der Begriff erinnert an die Verkaufsvokabeln der Parteien, die in den letzten Jahren um sich gegriffen haben. Das „Goldene-Energie-Gesetz“ wäre jedenfalls nicht weit. Haben die Autor*innen an so etwas dabei gedacht?

Umbauen ist ein altes Thema.

Rund 80 Prozent der Bautätigkeit findet im Bestand statt – umbauen, sanieren, retten, revitalisieren, energetisch sanieren. Alles gängige Praxis seit immer schon. Die Politik hat das neue Leitbild trotzdem sofort umarmt. So konnte man am 20.2. lesen, dass Bundesumweltministerin Steffi Lemke und Bundesbauministerin Klara Geywitz jetzt mehr bestehende Wohnungen sanieren wollen, „um die Klimakrise und Ressourcenknappheit zu bekämpfen.“

Seltsam: Wärmedämmung, sparsamere Heizsysteme etc. sind meist schon lange vorgeschrieben und bei der KfW seit Jahrzehnten eine Voraussetzung für Förderkredite. Hätte die Politik jetzt plötzlich die Eingebung, mehr Mittel dafür lockerzumachen, hätte niemand etwas dagegen. Dafür wäre allerdings kein „neues Leitbild“ nötig. Denn nicht in die Pötte kamen die Sanierungsziele bislang deswegen, weil der Umfang der Förderung nie den verkündeten Zielen entsprach. Aber es geht ja noch weiter:

‚Der Gebäudebestand muss besser bewahrt werden‘, sagte Lemke am Montag in Berlin. Das spare Baukosten und Abfall und diene somit dem Klimaschutz. Gemeinsam mit dem Bundesbauministerium wolle sie den Wohnungsmangel künftig ökologisch bekämpfen.“

Diese Äußerung ist nur scheinbar wirr. Sie bezieht sich auf den geforderten Paradigmenwechsel und das Konzept der „Goldenen Energie“: Das Bauen selbst belastet durch großen Material- und Energieverbrauch Klima und Umwelt, ist zu teuer, verändert gewohnte Lebensräume, verbraucht oft zusätzliche Stadtflächen. Deshalb ruft der Bericht das Neubauen zum politischen Gegner der Baukultur aus. Nur noch Umbauen wäre dann die Rettung: Kein zusätzlicher Flächenverbrauch, kein (oder viel weniger) Beton, keine große Stadtveränderung, keine Vernichtung bereits verbauter Energie und verwendeten Materials.

Wo ist der Haken in der Logik?

In der Baupraxis und beim rasant steigenden Bedarf an Wohnungen. Wie erwähnt, so einfach ist das alles nicht. Umbauen ist wesentlich komplexer, schwieriger und risikoreicher als Neubauen. Im Bericht selbst heißt es unter „Strukturelle Hindernisse“, der Bestand sei „eine große Unbekannte“, weswegen „nach Untersuchung des Bestands häufig dem Abriss und anschließenden Neubau der Vorzug gegeben wird“. Und weiter: „Angst vor Unvorhergesehenem, einer damit verbundenen längeren Bauzeit und steigenden Kosten, die sich nicht mehr abschätzen lassen, sind vorwiegend bei Umbauten verbreitet.“

Wir meinen, dies stimmt genau. Und wie jeder weiß: Bundesbauministerin Geywitz ist schwer unter Druck beim Thema 400.000 neue Wohnungen pro Jahr. 2022? Verfehlt. 2023 und 2024? Wird noch schlimmer. Das neue Leitbild wird daran wenig oder nichts ändern. Geywitz greift nach einem billigen Strohhalm und ahnt nicht, wie teuer der werden kann.

Die Baupraxis ist und bleibt das Nadelöhr.

Würde man weniger abreißen wollen, müssten Architekten und Bauleiter beispielsweise dafür auch ausgebildet sein. Umbauen und Revitalisieren benötigt spezielle Kompetenzen und viel Erfahrung mit Bausubstanz und Konstruktion. Das alles wird an den Hochschulen zu knapp unterrichtet. Selbst das Vermaßungssystem eines Umbauprojekts ist von dem eines Neubaus verschieden. Da nutzen auch die digitalen Tools wenig. Ein guter Umbauarchitekt muss Gebäude „lesen“ können, um die Komplexität eines Umbaus vorhersehen zu können und in Kooperation mit erfahrenen Betrieben zu lösen. Das ist meist nicht leicht, nicht schnell, nicht billig. Vielleicht erinnert sich noch jemand, weswegen der „Baulöwe“ Schneider die Deutsche Bank betrügen musste? Weil seine Umbauprojekte in Leipzig ein Riesengeld verschlangen und im Grunde wirtschaftlich nicht darstellbar waren.

Als wir vor 30 Jahren anfingen, statt Abriss Umbauvorschläge zu machen, fragte man uns, ob wir verrückt seien.

Abreißen und Neubau wäre doch a) wirtschaftlicher, b) schneller und würde c) höhere Qualität ermöglichen. Tatsächlich ist das manchmal richtig. Und manchmal falsch. Erfahrene Architekten sehen oft mehr sinnvolles Umbaupotenzial als Investoren. Insofern finden wir es gut, die Nachhaltigkeitseffizienz stärker als früher in die Entscheidungen einzubeziehen und im Zweifelsfall die Investoren zu etwas mehr Nachdenken zu zwingen.

Havens im Vergleich früher heute Voltastraße 8, Frankfurt,

Um die Wirtschaftlichkeit von Sanierungen und Aufstockungen zu verbessern, schlägt der Bericht etwas vor, was außer Abstriche bei der Qualität nichts kosten würde, nämlich baurechtliche Sondererleichterungen: „Würden Bestandsbauten nach den technischen Anforderungen zum Zeitpunkt ihrer Errichtung beurteilt, würde das den Umbau deutlich erleichtern.“ Damit würde künftig für zusätzlich im Bestand geschaffenen Wohnraum der Rückschritt in der Bauqualität erlaubt sein.

Wir vermuten, dass viele in den Umbauzug einsteigen werden.

Die Politik wird allerdings schnell merken, dass das neue Leitbild keine Probleme automatisch aus der Welt schafft. Einerseits erreicht sie damit nicht ihre Wohnungsbauziele. Andererseits könnte auffallen, dass in den Kommunen ein riesiger Instandhaltungsrückstau besteht, nicht nur bei den Schulen.

Wenn man den Wandel zu einem nachhaltigeren Gebäudebestand fördern will, wäre vielleicht ein TÜV für Gebäude das Sinnvollste, der durch die Vollzugsbehörde analog der Sonderbaukontrolle umgesetzt wird. Das würde zu einer völlig anderen Bewertung des Immobilienbestands beitragen. Der gesellschaftliche Instandhaltungsrückstau – bei den privaten wie bei den öffentlichen Besitzern – würde besser sichtbar. Gegenwärtig wird meist nur das Nötigste repariert und ansonsten Verschleiß und ökologische Rückständigkeit hingenommen. Auch das entspricht keiner vernünftigen Nachhaltigkeitswirtschaft. Wer Bausubstanz erhalten will, damit sie möglichst lange genutzt wird und nicht neu gebaut werden muss, der darf nicht zuschauen, wie Gebäude rosten und mürbe werden.

Fazit

Es gibt keinen einfachen Weg zu einer klimaneutralen Zukunft der Städte und nachhaltigem Bauen. Der Paradigmenwechsel zu einer neuen Umbaukultur ist nicht so einfach und billig, wie es klingt. Und er bringt wahrscheinlich gar nicht die nötigen Veränderungen. Eine normativ vorgegebene Präferenz fürs Bauen im Bestand ist kein ausreichendes Konzept, wenn man sich den Verbesserungsbedarf der Städte insgesamt anschaut. Und Stadtentwicklung ist per se nie etwas anderes als „Bauen im Bestand“, ob man ein Gebäude revitalisiert oder einen Neubau in ein Ensemble integriert. Wir meinen daher, Baukultur ist unteilbar – Instandhaltungskultur, Umbaukultur und Neubaukultur gehören zwingend zusammen.